Deutschland startete verspätet ins Atomzeitalter. Viel Begeisterung begleitete die neue Technik anfangs. Kritische Stimmen kamen eher aus dem politisch rechten Spektrum. Das änderte sich erst in den 1970er-Jahren.
Anfang der 1950er-Jahre herrscht atomare Aufbruchstimmung. Im Deutschland des Wiederaufbaus wächst der Energiehunger, gleichzeitig drohen die Kohlevorräte knapp zu werden. Da kommt der Versprechen der friedlichen Kernenergie wie gerufen.
Auch Physik-Nobelpreisträger Werner Heisenberg wirbt für sie. In einem Interview von 1951 – zu hören im SWR2 Archivradio – wird er gefragt, ob “der Atomkocher für die Hausfrau und das Atomauto” kommen werden. Heisenberg bezeichnet solche Fantasien zwar als “reine Fantasie”, aber solche Visionen sind damals durchaus verbreitet. “Kernkraftgetriebene Staubsauger werden vermutlich innerhalb der nächsten zehn Jahre Wirklichkeit werden”, prognostiziert noch 1955 der US-Erfinder Alex Lewyt.
Erster Atomreaktor sollte nach Karlsruhe
Zunächst verbieten die Deutschen die angewandte Atomforschung noch. Doch dann darf auch die Bundesrepublik ihren ersten Forschungsreaktor bauen. Heisenberg hätte ihn gerne bei sich in München gehabt, doch Bundeskanzler Konrad Adenauer entscheidet sich für Karlsruhe. Aus Sicherheitsgründen: “München war Adenauer zu nahe an der Tschechoslowakei” und somit am Ostblock, erklärt der Kernenergie-Historiker Joachim Radkau im Podcast SWR2 Wissen. Karlsruhe schien Adenauer sicherer. Allerdings kam es beim Bau zu Verzögerungen, und am Ende stand der erste Reaktor dann doch in Garching bei München.
Nur zur friedlichen Nutzung?
1955 wird auch ein eigenes “Bundesministerium für Atomfragen“ ins Leben gerufen und der aufstrebende CSU-Politiker Franz Josef Strauß erster Bundesatomminister. Schon damals gab es eine erhitzte Atomdebatte. Sie drehte sich nicht um die Frage: “Atomkraft, ja oder nein?”, sondern: Soll sich die Bundesrepublik auf die friedliche Nutzung beschränken? Adenauer und Strauß – er wird 1956 Verteidigungsminister – forcieren die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. Die SPD ist dagegen und folgt in ihrer Linie dem “Göttinger Manifest” – einer Erklärung der führenden deutschen Kernphysiker, die auf die Formel hinausläuft: Ja zur Kernenergie, Nein zu Atomwaffen. Vier Tage lang debattiert der Bundestag darüber, begleitet von öffentlichen Demonstrationen.
Erste Kernkraftwerke – und frühe Kritik
Adenauer setzt sich am Ende nicht durch, die Bundesrepublik wird keine Atommacht. Aber sie bekommt 1961 ihr erstes Atomkraftwerk Kahl am Main und nach ihm viele weitere. Aus dem Bundesatomministerium geht übrigens 1962 das bis heute existierende Bundesforschungsministerium vor.
In den 1960-ern werden dann auch erste kritische Stimmen laut. Anders als später kamen sie eher von rechts. Einer der frühen Warner war der Mediziner und Wissenschaftspublizist Bodo Manstein – der später zu den Mitgründern des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland BUND gehörte.
Manstein hatte eine NS-Vergangenheit. 1930 war er in die NSDAP eingetreten und war Mitglied im “Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund”. In den 1950er-Jahren hatte er versucht, Proteste gegen die Atombombenversuche im Pazifik zu organisieren. In der Folge konzentrierte er sich immer mehr auf die Atomenergie und ihre Risiken.
Für 1968er war Atomkraft kaum ein Thema
Die politische Linke dagegen beschäftigt sich wenig mit der Kernenergie. Rudi Dutschke etwa, eine der Leitfiguren der 1968er-Bewegung, sympathisiert eher mit ihr. Eine eigentliche Anti-AKW-Bewegung entsteht erst, als Anfang der 1970er-Jahre der Kraftwerksbau vorangetrieben wird, insbesondere unter dem Eindruck der Ölkrise 1973. Die ersten größeren Proteste richten sich gegen das Kernkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl. Die Bürgerinitiativen dort haben noch keine politische Agenda, es sind Landwirte, Weinbauern, auch Kirchenvertreter, die sich zusammenschließen. Sie plagen einfache Sorgen – nicht so sehr vor einem Atomunfall. Sie fürchteten vielmehr, der Rhein könne sich übertrieben aufheizen, der aus den Kühltürmen austretende Wasserdampf würde zu weniger Sonne und mehr Nebel führen. Man wolle “kein zweites Ruhrgebiet am Oberrhein”.
1970er-Jahre: Politisierung der Atomfrage
Der Streit eskalierte. Nachdem sich die Gegner von der Baden-Württembergischen Landesregierung nicht ernstgenommen oder in die “linksextreme” Ecke gestellt sehen, besetzen sie im Februar 1975 das Baugelände.
Proteste, Besetzungen, Räumungen. Was mit Bürgerprotesten in Wyhl begann, wiederholt sich später – sehr viel stärker politisiert – an anderen Standorten: in Brokdorf, Kalkar, am geplanten Endlager Gorleben. Die Anti-AKW-Bewegung wird eine der Wurzeln der Partei der Grünen.
Tschernobyl 1986: Aufwind für die Gegner
Weiteren Auftrieb bekommt der Protest im Frühjahr 1986 durch das Reaktorunglück im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl. Zehntausende versammeln sich an Pfingsten auf dem Gelände der geplanten Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf, einem Prestigeprojekt von Franz Josef Strauß, inzwischen bayerischer Ministerpräsident.
Vermummte Demonstranten beschießen die Polizei mit Stahlkugeln und setzen Fahrzeuge in Brand. Die Staatsmacht ihrerseits provoziert mit tieffliegenden Hubschrauberflügen und Reizgasgranaten, die sie in die Mengen werfen. Die Bilanz: Hunderte von Verletzten auf beiden Seiten, Sachschäden in Millionenhöhe. Die oppositionelle SPD ändert nach Tschernobyl ihre Position und wechselt auf die Seite der Gegner.
Geburtsstunde des Bundesumweltministeriums
Bundeskanzler Kohl (CDU) dagegen ist in einem Dilemma: Für ihn und seine schwarz-gelbe Bundesregierung ist Tschernobyl kein Anlass, aus der Kernenergie “auszusteigen” – ein Wort, das in dem Zusammenhang gerade aufkam. Deutsche Kernkraftwerke seien die sichersten der Welt, das betont Kohl immer wieder. Gleichzeitig konnte er Tschernobyl auch nicht ignorieren. Also setzt er ein Zeichen und hebt ein neues Ministerium aus der Taufe, eins für “Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit”. Das Umweltministerium ist somit nach dem Forschungsministerium das zweite, das in der Geschichte der Kernenergie wurzelt.
Einer der Profiliertesten in diesem Amt wird Klaus Töpfer, der nach der Wende die beiden Kraftwerke der DDR in Lubmin und Rheinsberg stilllegen lässt.
Kohl regiert bis 1998. Nach dem Machtwechsel beschließt die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder den Ausstieg aus der Kernenergie. Die schwarz-gelbe Regierung unter Angela Merkel macht ihn 2010 wieder rückgängig. Ein Jahr später, nach der Katastrophe von Fukushima, ändert Merkel ihre Position und verkündet das Aus für die deutschen Atomkraftwerke bis 2022.
Warum wurde die Anti-AKW-Bewegung so groß?
Frankreich will neue Atomkraftwerke bauen. Großbritannien ebenfalls. In Deutschland dagegen haben die Atomkraftgegner ihr Ziel nun erreicht. Auch die Schweiz und Österreich sind faktisch auf einem Ausstiegskurs. Warum diese Unterschiede? Für Historiker Joachim Radkau liegt eine der zentralen Ursachen in den politischen Rahmenbedingungen: “Nach meinem Eindruck war das Entscheidende, dass es hier keinen mächtigen atomaren Militärapparat gab.”
Anders gesagt: In Kombination mit einer militärischen Nutzung stellen sich Investitionen in Kerntechnik ganz anders dar als ohne.
Nach den erfolgreichen Protesten gegen die Wiederaufbereitungsanlage Gorleben, erzählt Radkau, habe ein Atommanager ihm gestanden, wie dankbar er den Kernenergie-Gegnern gewesen sei – sie hätten die Energiewirtschaft vor einer der größten Fehlinvestitionen bewahrt.
Ihr Einverständnis zum Atomausstieg haben sich die Energiekonzerne bezahlen lassen – dagegen gekämpft haben sie kaum.
Source : Tages Schau