Die russische Perspektive reicht längst nicht mehr aus: Die ARD hat nun ein Auslandsstudio in der Ukraine. Auch um der einsetzenden Kriegsmüdigkeit entgegenzuwirken. Aus Moskau berichten dafür künftig weniger Korrespondenten.
Nur zwei Stunden vor dem Eröffnungsempfang des neuen ARD-Auslandsstudios in der Ukraine ertönte einmal mehr der Luftalarm über Kiew. Was für die dort arbeitenden Korrespondenten zum Alltag gehört, war für die Auslandschefin des WDR, Sabine Scholt, die am Dienstagabend wie rund 50 andere Gäste an der Eröffnungsfeier teilnehmen wollte, eine eindringliche Erfahrung.
Vassili Golod, der das crossmediale Studio künftig leitet und vorher bereits als Auslandskorrespondent in der Ukraine unterwegs war, erzählt im anschließenden Pressegespräch nüchtern, dass er und seine Kollegen im Falle eines Luftalarms inzwischen längst nicht mehr unmittelbar die Arbeit niederlegen und im Keller unter dem Studio oder im nahe gelegenen U-Bahnhof Schutz suchen, sondern erst auf ihren Smartphones nachsehen, ob wirklich Raketen im Anflug sind oder nur Flugobjekte an der russischen Grenze aufgestiegen seien. Dann könne man durchaus sitzen bleiben.
Umzug jederzeit möglich
Die Veranstaltung konnte am Abend schließlich wie geplant stattfinden – und das neue Studio im Beisein von Kiews Bürgermeister, Vitali Klitschko, dem deutschen Botschafter Martin Jäger und einigen Vertrauten aus dem Umfeld des ukrainischen Präsidenten und des Außenministers eröffnet werden.
Nach 18 Monaten Berichterstattung aus dem Kriegsgebiet, die Golod und seine Kolleginnen Rebecca Barth, Andrea Beer und Birgit Virnich inzwischen hinter sich haben, hat das ständige Arbeiten im Provisorium damit ein Ende. Zuvor wurden Sendungen für die „Tagesschau“, den „Weltspiegel“ oder das „Europamagazin“ teils auf der Rückbank des Autos geschnitten, jetzt steht eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung mitten im Kiewer Regierungsviertel, unweit vom Maidan, dem wichtigen Ort für die ukrainische Zivilgesellschaft. Vor dem Fenster des Studios stehen die Panzersperren, Hinausfilmen ist nicht erlaubt; ein Sicherheitsrisiko. Das neue Studio ist schlicht eingerichtet: Ein schneller Umzug solle jederzeit möglich sein, falls das Kriegsgeschehen dazu zwinge.
Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar vergangenen Jahres hatte die Ukraine bei der ARD zum Berichtsgebiet des Studios Moskau gehört. Spätestens der Angriff auf das gesamtukrainische Staatsgebiet habe nun aber gezeigt, dass es beide Perspektiven brauche. „Es lässt sich nie wieder glaubwürdig aus Moskau über die Ukraine berichten“, sagt der WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn.
Ein eigenes Studio in Kiew ermögliche neben der fortlaufenden Berichterstattung aus dem gesamten Kriegsgebiet und von der Front künftig auch ausgeruhte Hintergrundberichte und Sendungen, etwa über den Kampf gegen die Korruption im Land, die Annäherung an die EU und die Angst vor Zwischenfällen am Atomkraftwerk Saporischschja. Eine Regelsendung sei nicht geplant, die Beiträge werden wie auch bislang für die verschiedenen ARD-Formate produziert. Der Nachrichtenmüdigkeit, die sich im Angesicht multipler anderer Krisenherde in Bezug auf die Situation in der Ukraine bei vielen Menschen in Deutschland breitmache, wolle man mit dem neuen Studio aktiv entgegenwirken.
Hohe Summen für die Versicherungen
Die Eröffnung des neuen Studios sei ein Statement an die ukrainische Bevölkerung, dass Deutschland den Blick auf sie nicht verliere, nicht zuletzt auch ein finanzielles. Den neuen Standort im Kriegsgebiet aufzubauen habe sich durchaus als Kraftakt erwiesen. Neben den Kosten für Equipment und Räumlichkeiten seien vor allem hohe Summen für die Versicherungen und Sicherheitsbegleitungen der dortigen Mitarbeiter angefallen. Möglich ist die Investition zum einen durch Umschichtungen im Moskauer Studio, von wo aus künftig nur noch vier statt wie zuvor sechs Korrespondenten berichten. Den Großteil der Kosten trage jedoch der WDR, der durch „Einsparungen außerhalb des Programms“ Mittel frei gemacht habe, wie Scholt erläutert.
Im Gegensatz zu Russland, wo durch strenge Mediengesetze Journalisten mittlerweile nur noch sehr eingeschränkt berichten können, sei in der Ukraine freie Berichterstattung weiterhin möglich. Große Vorsicht sei jedoch geboten, da Russland teils Medienberichte aus der Ukraine analysiere, um Militärschläge zu planen. Bilder von kritischer Infrastruktur seien deshalb streng untersagt und Aufnahmen des ukrainischen Militärs nur zeitversetzt zu nutzen, um die Streitkräfte nicht in Gefahr zu bringen.
Quelle : faz