Nach der Nacht der Barrikaden ist das Entsetzen groß. Die Erklärungen sind selbst Teil einer ritualisierten Naivität. Die Muster sind seit 30 Jahren bekannt. Eine Analyse.
In den Tagen danach scheint das Entsetzen über den Ausnahmezustand zu Silvester nicht minder befremdlich als die aggressive Enthemmung in der Nacht. Hätte man es nicht wissen können? Leuchtraketen und lärmendes Sprengwerk sind eben nicht nur dazu geeignet, freudig das neue Jahr zu begrüßen. Vielmehr bieten sie Gelegenheit, Zorn und Omnipotenzfantasien einen spürbaren Ausdruck zu verleihen. Silvester hat sich als Datum sozialer Entladungen etabliert, deren Akteure es längst darauf abgesehen haben, auf Böller und artige Illuminationen beschränkte Rituale zu torpedieren. Hier von Brauchtum zu sprechen, ist nicht nur eine sprachliche Fehlleistung. Und so werden zum Jahresbeginn stereotyp nicht nur die Verletzten gezählt, sondern auch die Angriffe auf Gemeinschaft und Zivilität beklagt. War man geneigt, die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht 2015 in Köln als verstörend-singuläres Ereignis zu deuten, so tendiert der Wille zum Exzess inzwischen auf Wiederholung und Variabilität.
Der Kampf aller gegen alle
Was es mit derlei Rissen in der sozialen Firnis auf sich hat, hat der kürzlich verstorbene Schriftsteller und Essayist Hans Magnus Enzensberger bereits vor 30 Jahren unter dem Begriff des molekularen Bürgerkriegs beschrieben. Das Adjektiv molekular diente ihm als Erklärung dafür, dass die urbanen Gewaltphänomene nicht länger sozial erklärbar, politisch begründet und von Massen getragen sein müssen, sondern sich spontan und motivationslos ereignen können. Einer der Kernsätze des Enzensberger-Essays „Ausblicke auf den Bürgerkrieg“ liest sich heute wie eine Betrachtung zu den sich immer häufiger ereignenden Angriffen auf Feuerwehrleute und Sanitäter zu deren Einsätzen.
Die Metastasen des Bürgerkriegs, so Enzensberger, „gehören zum Alltag der großen Städte, nicht nur in Lima und Johannesburg, in Bombay und Rio, sondern auch in Paris und Berlin, in Detroit und Birmingham, in Mailand und Hamburg. Geführt wird er nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln“. In einer Welt, durch die lebende Bomben irren, so lautete Enzensbergers düstere Diagnose, bleibe nur noch der Hobbes’sche Urmythos vom Kampf aller gegen alle übrig.
Drängte sich in der Metapher der lebenden Bombe eine Vorstellung vom terroristischen Selbstmordattentäter auf, der mehr oder weniger ideologischen Mustern zuzuordnen war, so gehen die Angriffe gegen gesellschaftliche Repräsentanten inzwischen immer öfter aus frappierender Beiläufigkeit hervor. Demonstrative Staatsfeindschaft von rechts und links geht einher mit den Anerkennungs- und Sichtbarkeitsbedürfnissen multiethnischer Kohorten, die sich in eruptiven Männlichkeitsbeweisen niederschlagen. Aus Lethargie und Langeweile quillt eine Energie, deren Impulsschübe sich gegen die Undurchdringlichkeit eines stark reglementierten Alltags zu richten scheinen.
Er befürchte, so Enzensberger, dass es – über alle Unterschiede hinweg – einen gemeinsamen Nenner für derlei Phänomene gebe. „Das ist, zum einen, der autistische Charakter der Täter und, zum anderen, ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft. Die Gewalt hat sich von allen ideologischen Begründungen befreit.“
Dagegen helfen weder Verbot noch Regulierung. Sie sind vermutlich selbst Teil einer Folklore des Erstaunens darüber, wie aussichtslos die Gebote der Vernunft sowie die Erkenntnisse über CO2-Ausstoß und Feinstaubaufkommen gegen die Gebaren individueller Selbstbehauptung und kollektiver Bündnisse sind.
Das Gefühl der permanenten Gefährdung
Feuerwehrleute, THW-Kräfte und das Begleitpersonal von Krankenwagen scheinen insbesondere deshalb zum Ziel geplanter oder zufälliger Wutattacken zu werden, weil sie als Garanten einer gesellschaftlichen Stabilität jenseits der staatlichen Ordnungs- und Sicherheitspolitik in Erscheinung treten. Sie bilden die Zielscheibe einer Lust auf Attacke, in der sich soziale Desintegration, Bürgerkriegserfahrungen in den Herkunftsmilieus und neorechte Umsturzfantasien überlagern. Das staatliche Gewaltmonopol ist angreifbar, und sei es auch nur in Gestalt von in einen Hinterhalt gelockten Rettungskräften.
Gegen die landläufige Vorstellung, dass die freiwillige Feuerwehr einen unverzichtbaren Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft leiste, wird immer stärker ein Gefühl der permanenten Gefährdung heraufbeschworen. Wir leben in unruhigen Zeiten – nicht nur zu Silvester.
Source : Berliner Zeitung