Während die ukrainischen Streitkräfte mit ihrer Gegenoffensive im Süden des Landes nur langsam vorankommen, greift Russland an anderer Stelle an. Die Frontstadt Awdijiwka ist nun von der Umschließung bedroht.
In den vergangenen Tagen haben die russischen Streitkräfte mehrere Versuche unternommen, die ukrainische Verteidigung nahe Awdijiwka zu durchbrechen. Nördlich und südwestlich der Kleinstadt haben sie dabei offenbar Fortschritte erzielt und mehrere Quadratkilometer unter ihre Kontrolle gebracht.
Welche Wichtigkeit die ukrainische Regierung der Verteidigung der Ortschaft im Gebiet Donezk beimisst, wird schon daran deutlich, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Videoansprache am Donnerstagabend mit einem Dank an unterschiedliche Brigaden einleitete, die derzeit rund um Awdijiwka im Einsatz sind.
Die Stadt liegt etwa fünf Kilometer nördlich des Donezker Flughafens, um den es bereits zu Beginn des Krieges im Donbass 2014 zwei erbitterte Schlachten gab. Folglich liegt Awdijiwka auch seit nahezu zehn Jahren in unmittelbarer Nähe der Frontlinie, die vor der vollumfänglichen russischen Invasion meist als Kontaktlinie bezeichnet wurde. Aus diesem Grund können die ukrainischen Verteidiger in diesem Frontabschnitt auf eine gut ausgebaute Verteidigung aus Stellungen und Grabensystemen zurückgreifen.
Russland mit hohen Verlusten an Militärtechnik
Die russische Armee hat sich dazu entschlossen, an einem gut präparierten Frontabschnitt in die Offensive zu gehen. Der Militärfachmann Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer führt das im Gespräch mit der F.A.Z. darauf zurück, dass die russische Luftaufklärung in diesem Bereich offenbar eine personell geschwächte Verteidigung ausgemacht hatte. Die Ukrainer wehren zeitgleich auch im nordöstlichen Frontabschnitt nahe der Stadt Kupjansk im Gebiet Charkiw russische Vorstöße ab. Ein Großteil der ukrainischen Streitkräfte wird unterdessen bei der Gegenoffensive im Süden des Landes eingesetzt.
Laut Reisner versuchen die Russen die Stadt Awdijiwka in einer Zangenbewegung von Norden und Süden zu umfassen, um die ukrainischen Verteidiger vom Nachschub abzuschneiden. Eine ähnliche Taktik hatte man bei der Eroberung der heute weitgehend zerstörten Städte Mariupol und Bachmut angewandt. Reisner zufolge haben die Russen derzeit aber Probleme, hinter die Stellungen der Ukrainer zu gelangen, da diese beide Flanken zuletzt massiv vermint haben.
Mithilfe von Panzerabwehrlenkwaffen, Artillerieschlägen und FPV-Drohnen sei es den Ukrainern gelungen, eine bedeutende Anzahl russischer Militärtechnik zu zerstören. Das amerikanische Institute for the Study of War gibt die russischen Verluste in diesem Frontabschnitt seit dem 10. Oktober mit 33 Schützen- und 15 Kampfpanzern an.
Angesichts der Luftüberwachung mit Drohnen sieht man immer seltener Vorstöße mechanisierter Verbände, wie aktuell in Awdijiwka. Im Süden sind die Ukrainer dazu übergegangen, mit kleinen Sturmtruppen entlang der Baumreihen vorzustoßen und einzelne Gräben zu erobern.
Reisner geht davon aus, dass die russische Offensive bei Awdijiwka die Ukrainer dank umfangreicher Aufklärung nicht überrascht hat. Aufgrund von fehlenden Waffensystemen mit gesteigerter Reichweite seien sie aber nicht in der Lage gewesen, die russischen Bereitstellungsräume zu attackieren.
Quelle : faz