Die Unterstützung der Folter-Sekte Colonia Dignidad in Chile ist eines der düstersten Kapitel bundesdeutscher Außenpolitik. Doch auch unter Annalena Baerbock bremst das Auswärtige Amt Aufarbeitung und Gedenken.
Immer, wenn Doris Zeitner auf das Gelände der deutschen Ex-Sekte Colonia Dignidad in Chile fährt, wird ihr klamm ums Herz: “In diesen Wänden steckt so viel negative Energie, das ist Wahnsinn. Dort ist so viel Horror passiert.”
Zeitner wurde in der Colonia Dignidad geboren, von ihren Eltern getrennt und musste jahrzehntelang Sklavenarbeit ohne Lohn verrichten. Die Züchtigungsmaßnahmen der Sektenführung kann sie nicht vergessen: Prügel und Elektroschocks.
In den 1960er-Jahren gründete der pädophile Laienprediger Paul Schäfer die Colonia Dignidad in Südchile. Nach außen war es ein deutsches Mustergut – drinnen ein Unterdrückungsapparat mit Sklavenarbeit, Misshandlungen und systematischem sexuellem Missbrauch Minderjähriger.
Bayerische Gemütlichkeit statt Gedenken für Folteropfer
Als sich die Sekte nach der Inhaftierung Schäfers 2005 der Öffentlichkeit öffnete, packte Zeitner ihre Sachen, zog weg, suchte sich psychologische Hilfe und kämpft seitdem mit der Opferorganisation Adec für Aufarbeitung. “Dort muss ein Gedenkort entstehen”, fordert sie.
Doch die Realität sieht anders aus: Die Colonia Dignidad heißt heute Villa Baviera: Bayerisches Dorf. Es ist ein Tourismusbetrieb mit Zapfbier, Schweinshaxe und aufdringlicher bajuwarischer Gemütlichkeit, wo Chilenen und Chileninnen wochenends Entspannung suchen.
“Schande für die deutsche Diplomatie”
“Dass an diesem Ort, wo misshandelt und missbraucht worden ist, heute bayerische Familienfeste und Hochzeiten gefeiert werden, ist ein Skandal”, erklärt der CDU-Abgeordnete Michael Brand, der seit Jahren im Bundestag die Aufarbeitung vorantreibt. “Dieses Kapitel ist vor allem eine Schande für die deutsche Diplomatie.”
Gemeint ist die deutsche Botschaft in Chile, die seit den 1960er-Jahren von den Sektenverbrechen an deutschen Staatsbürgern wusste – und dennoch Sektenchef Schäfer jahrzehntelang unterstützte. Deutsche Diplomaten schickten geflüchtete Missbrauchsopfer damals sogar zurück in die Fänge des Pädophilen und seines treuen Führungskreises.
Morden für Diktator Pinochet
Später, im Zuge des brutalen Putsches von General Augusto Pinochet im Jahr 1973, wurde die Colonia Dignidad eines der geheimsten Folterzentren der Diktatur. Der Wissenschaftler Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika schätzt, dass circa hundert meist linke Regimegegner mit Hilfe der deutschen Sektenführung gefoltert, ermordet und im Wald der Sekte verscharrt wurden.
“Die Angehörigen der verschwundenen Folteropfer warten seit vielen Jahren darauf, dass endlich eine Gedenkstätte entsteht, wo das Leid, das dort verursacht wurde, sichtbar wird”, erklärt Stehle. Doch die Planungen dafür kommen nicht voran.
Ministerium setzt Experten ab
Ex-Sektenmitglied Winfried Hempel, der seit Jahren für Aufarbeitung kämpft, sieht vor allem Versäumnisse beim Auswärtigen Amt: “Das Ganze läuft viel zu langsam. Seit acht Jahren wird an einem Konzept gearbeitet, wofür das Auswärtige Amt extra Experten unter Vertrag genommen hat.”
Eine davon ist Elke Gryglewski, die Leiterin der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen. Nach zahlreichen Gesprächen mit Missbrauchsopfern, Angehörigen der Folteropfer, früheren Sektenmitgliedern und Opfergruppen reichte sie 2021 zusammen mit ihrem Kollegen Christian Wagner ein Konzept für eine Gedenkstätte ein.
Doch Ende vergangenen Jahres wurden Gryglewski und Wagner vom Auswärtigen Amt abgesetzt. Offenbar auch auf Druck der chilenischen Regierung, die sich bei der Ausarbeitung der Gedenkstätte nicht ausreichend eingebunden gefühlt hatte. Das Konzept, Ergebnis von acht Jahren Arbeit: plötzlich wertlos.
“Dass die Gedenkstätten-Experten vom Auswärtigen Amt kaltgestellt wurden, finde ich, so wie auch die chilenischen Opfergruppen, empörend”, erklärt Doris Zeitner. “Wir haben die Arbeit der Experten sehr geschätzt.”
Aufarbeitung seit Langem gebremst
Es ist nicht das erste Mal, dass das Auswärtige Amt die Aufarbeitung zu behindern scheint. Bundestagsabgeordnete, die sich seit Langem mit dem Thema beschäftigen, haben immer wieder erhebliche Widerstände in der Behörde erlebt. Der SPD-Politiker Klaus Barthel kritisiert, dass sowohl “das Auswärtige Amt sehr stark bremst als auch, immer wenn wir die Sekte besucht haben, die deutschen Stellen in Chile.”
Ganz ähnliche Erfahrungen hat Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow im Oktober 2022 gemacht. Damals war er als Bundesratspräsident in das Sektengelände gereist. Im früheren Folterkeller traf er Angehörige der Verschwundenen. Für die Opfer war es ein wichtiger Besuch mit Symbolkraft.
Ungewöhnlich war jedoch, dass die deutsche Botschafterin in Chile Bundesratspräsident Ramelow nicht begleitete. Sie soll sogar von der Reise abgeraten haben.
Ramelow fühlte sich von Anfang an von den deutschen Diplomaten nicht angemessen unterstützt – und beschwerte sich darüber schriftlich bei der Ministeriumsspitze. So habe es vor seiner Reise “heftigen Widerstand aus dem Auswärtigen Amt” gegeben. Zudem sei er von einem Referatsleiter als “aufgeblasener Pfau” bezeichnet worden.
“Unverständlich, dass der Bundestag Druck machen muss”
SPD-Mann Barthel hatte mit der Grünen Renate Künast und dem CDU-Menschenrechtler Brand 2017 Hilfszahlungen an Sektenopfer im Bundestag durchgesetzt – offenbar gegen das Bestreben der Diplomaten.
Brand erkennt heute ähnlichen Widerstand bei der Errichtung eines Gedenkortes: “Dass der deutsche Bundestag fraktionsübergreifend der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt Druck machen muss, endlich zu konkreten Vereinbarungen zu kommen, ist absolut unverständlich.”
Was ist mit Baerbocks “wertegeleiteter Außenpolitik”?
Wie passt all das zur “wertegeleiteten Außenpolitik” für die sich Ministerin Annalena Baerbock einsetzen will? Das ARD-Studio Rio de Janeiro hat einen Fragenkatalog an das Auswärtige Amt geschickt. Auch nach mehr als zwei Wochen hat es die Behörde nicht geschafft, darauf zu antworten.
Für Ex-Sektenmitglied Winfried Hempel ist im Amt unter Baerbock bislang alles gleich geblieben. “Diese neue Ethik, die die Außenministerin in Deutschland verkündet, die kommt hier in Chile nicht an. Es läuft genauso weiter: ein Sumpf von Bürokratie.”
Klaus Barthel sieht Baerbock in der Pflicht. “Wenn es die Diplomaten und Diplomatinnen nicht von sich aus tun, muss die Aufarbeitung Chefsache im Auswärtigen Amt werden.”
“Es muss endlich Gerechtigkeit geben”
Gedenkstättenexpertin Elke Gryglewski hofft, dass “der deutsche und der chilenische Staat einen symbolischen Spatenstich für eine Gedenkstätte und ein Dokumentationszentrum noch in diesem Jahr durchführen.” Möglichst im September, wenn sich der brutale Pinochet-Putsch zum 50. Mal jährt.
Der erste Schritt könnte am Dienstag gemacht werden, wenn in Berlin die deutsch-chilenische Regierungskommission tagt. Für Doris Zeitner wäre dies emotional wichtig: “Es muss endlich Gerechtigkeit geben für diejenigen, deren Angehörige in der Sekte verschwunden sind. Die brauchen einen Gedenkort, wo sie eine Rose ablegen können.”
Ob eines der düstersten Kapitel bundesdeutscher Außenpolitik ein für alle Mal aufgearbeitet wird, ist unklar. Klar ist für die Mehrheit der Opfer lediglich: An Orten, an denen gefoltert wurde, darf es nicht länger Bierausschank und Tourismus neben Massengräbern geben.
Source : Tages Schau