Vor 85 Jahren überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Die Erinnerung an diesen Tag ist zumeist verbunden mit dem Beschuss der Westerplatte bei Danzig. Doch die ersten Bomben trafen eine andere Stadt.
Józef Stępien führt durch die Stadt. Wieluń ist nicht groß, Stępien hat sein ganzes Leben hier verbracht. Er kennt die Straßen. Jetzt marschiert der 92-Jährige voran. “Lassen Sie uns rausgehen”, hatte er gesagt. Er will, dass wir sehen, was er gesehen hat vor 85 Jahren.
Vor einem unscheinbaren Haus neben einer Kirche bleibt er stehen. Hier hat er gewohnt als Siebenjähriger mit seinen Eltern. “Wir haben geschlafen. Erst das Dröhnen hat uns geweckt. Und dann wurde das Fenster herausgerissen. Als die Bombe auf das Gebäude gegenüber fiel, war der Luftdruck so groß, dass es das Fenster herausgerissen hat.” Überall habe es gebrannt, erzählt er. Die Grünanlagen, die Häuser, die gesamte Straße stand in Flammen.
Das Krankenhaus wurde zuerst beschossen
Die Kleinstadt-Atmosphäre, der warme Sommertag, alles verschwindet, als Stępien beschreibt, wie am 1. September 1939 die deutsche Luftwaffe über die Stadt herfiel. Lange hieß es, die ersten Schüsse im Zweiten Weltkrieg seien bei Gdańsk, Danzig, gefallen. Mit dem Beschuss der polnischen Garnison auf der Westerplatte sei der Krieg ausgebrochen. Zu dem Zeitpunkt aber brannte Wieluń schon.
Wenige Minuten vor der Westerplatte haben die Deutschen hier den Krieg begonnen, ohne Kriegserklärung, mit einem Kriegsverbrechen an polnischen Zivilisten.
Das erste Gebäude, auf das eine Bombe fiel, war das Krankenhaus von Wieluń – “obwohl auf dem Dach ein großes rotes Kreuz aufgemalt war”. Die Piloten der Junkers-Sturzkampfflieger hätten Bomben abgeworfen, wo es ihnen gerade passte, sagt Stępien. Auch die eindeutig erkennbare Kirche wurde getroffen.
Angriff aus der Nachbarschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Polen nach Westen verschoben. Das Land hat zwar im Westen deutsche Gebiete dazugewonnen, allerdings im Osten deutlich größere Gebiete abgeben müssen. Vor der Verschiebung lag Wieluń nur etwa zehn Kilometer von der Grenze zum Deutschen Reich entfernt. Der Angriff kam also aus der Nachbarschaft. Man kannte sich.
Einer der deutschen Flieger hatte bis kurz vor dem Angriff sogar in Wieluń gelebt. Er war dort aufgewachsen und mit denen zur Schule gegangen, die er am 1. September bombardierte. Nach den Kampfflugzeugen kamen Aufklärungsflieger, die die Zerstörung der Stadt mit hochauflösenden Kameras dokumentierten.
Wieluń, davon gehen heute viele Historikerinnen und Historiker aus, war ein Test. Die Luftwaffe wollte ihr Werk danach auswerten. Heute sind die Fotos großformatig im Stadtmuseum von Wieluń zu sehen.
Eine militärisch bedeutungslose Stadt
“Wieluń war vor allem eine landwirtschaftliche Handelsstadt, eine Kaufmannsstadt, keine Industriestadt”, sagt der Direktor des Museums, Jan Książek. In der Stadt habe es keine Befestigungen oder Bunker gegeben – weder zum Schutz der Zivilbevölkerung noch als militärisch relevante Ziele.
Hätte die Wehrmacht der Stadt irgendeine militärische Bedeutung beigemessen, hätte sie Straßen oder militärisch nutzbare Infrastruktur zerstört, sagt er. Die Deutschen aber haben mit Brandbomben einen großen Teil der Innenstadt ausgelöscht und mehrere hundert Menschen ermordet. “Das war mit Sicherheit ein Angriff, der das polnische Militär einschüchtern sollte. Wir sind überzeugt, dass das ein terroristischer Angriff war”, sagt der Museumsdirektor.
Auf einem Monitor zeigt Książek die deutschen Aufnahmen der Ruinenlandschaft. Und Bilder von einem Kriegsfotoalbum, angefertigt von Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Der spätere Hitler-Attentäter war am Angriff auf Wieluń beteiligt. “Vormarsch!” hat Stauffenberg in sein Album geschrieben, neben Bildern von brennenden Ruinen und einer Frauenleiche.
Der Krieg war erwartet worden, der Bombenangriff nicht
Natürlich, sagt Książek, habe man gewusst, dass die Deutschen einen Krieg vorbereiten. Und auch in Wieluń hätten sich die Menschen vorbereitet, auf Besatzung und Plünderung, eventuell auf Gasangriffe wie im Ersten Weltkrieg, aber nicht auf Fliegerbomben.
Józef Stępien draußen zeigt auf ein Kellerfenster. Weil die Menschen Gerüchte über Giftgas gehört hatten, haben sie versucht, die Fenster mit Sand abzudichten. “Statt Gas gab es Flugzeuge, die Häuser bombardierten. Die Menschen, die sich dort im Keller versteckt haben, sind alle umgekommen.” Eine Bombe hatte das Gebäude getroffen und den Eingang verschüttet. Der Keller wurde zur Falle.
Zerstörung prägt Wieluń bis heute
Der Stadt sieht man die Wunden bis heute an. Sie sehe komisch aus, hatte Museumsdirektor Książek gesagt. Die Lücken in der Stadt wurden nach dem Krieg mit Wohnblocks gefüllt, wie ein Flickenteppich. Am Markt sind die Fundamente der zerbombten Kirche zu sehen. Die Wehrmacht hat das beschädigte Gebäude nach dem Einmarsch gesprengt.
2019 legte der deutsche Bundespräsident hier einen Kranz nieder. In seiner Rede erklärte Frank-Walter Steinmeier damals: “Die Vergangenheit vergeht nicht. Und Verantwortung vergeht nicht. Das wissen wir.” Als Bundespräsident verspreche er den Polinnen und Polen, die Deutschen würden nicht vergessen.
Stępien muss das nicht versprechen. Er wird die Nacht des deutschen Angriffs vor 85 Jahren, die Kriegsjahre danach, als seine Eltern zur Zwangsarbeit verschleppt wurden und er als Kind allein zurückblieb, nie vergessen. Als einer der letzten Überlebenden wird er auch an diesem 1. September frühmorgens kurz nach halb fünf auf dem Marktplatz stehen und der Toten des ersten von vielen deutschen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg gedenken.
Andrzej Duda, der polnische Präsident, wird da sein. Aus Deutschland hat sich kein Besuch angekündigt.